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Interview aus aqua viva 3/2024
Aufruf zur Nichteinhaltung des Gesetzes
Aufruf zur Nichteinhaltung des Gesetzes
Seit der Verabschiedung des Stromgesetzes wird in Bern hitzig über das Verbandsbeschwerderecht gestritten. Vielen Politiker:innen ist es ein Dorn im Auge beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Als Präsidentin von Aqua Viva und Nationalrätin steht Martina Munz oftmals im Zentrum der Kritik. Im Gespräch mit Aqua Viva erklärt Sie, warum diese ihr Ziel verfehlt und wie wir den Ausbau der Erneuerbaren wirklich voranbringen.
Das Gespräch führte Tobias Herbst
«Wir haben kein Interesse daran, Projekte zu verzögern. Unser Ziel ist es, Natur und Landschaft zu erhalten und dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Gesetze eingehalten werden.»
Martina Munz, Präsidentin von Aqua Viva und Nationalrätin
Wie erleben Sie die aktuellen Diskussionen zu diesen Vorlagen?
Der Ausbau der erneuerbaren Energie ging lange Zeit viel zu langsam. Die Politik schiebt nun diese Verzögerungen den Umweltschutzorganisationen zu, statt die eigenen Versäumnisse einzugestehen. Solange genügend Erdöl und Gas vorhanden war, wurde relativ wenig in die erneuerbaren Energien investiert. Die Rahmenbedingungen für Solarenergie waren schlecht, Investitionen zahlten sich nicht aus. Die Auslandabhängigkeit war damals kein Thema. Jetzt, seit der Energiekrise, soll die Schweiz von heute auf morgen sich selbst mit Energie versorgen. Das ist schlicht nicht möglich. Ich verstehe, dass es einen gewissen Unmut gibt, wenn Grossprojekte durch Umweltauflagen verzögert werden. Einzelne Projekte, insbesondere Windanlagen, ziehen sich zum Teil über mehr als zehn Jahre. Das darf nicht sein und deshalb bin auch ich eine Befürworterin des Beschleunigungserlasses, aber ohne das Verbandsbeschwerderecht einzuschränken. Sonst entziehen wir Natur und Landschaft die Stimme.
Was wäre aus Ihrer Sicht zielführend?
Beim Beschleunigungserlass geht es darum, dass wir Bewilligungsprozesse straffen. Wenn man beispielsweise Windturbinen baut, dann braucht es eine Rodungsbewilligung für das betreffende Waldstück, eine Bewilligung für den Ausbau einer Zufahrtsstrasse, eine weitere Bewilligung für eine Zuleitung zur nächsten Starkstromleitung usw. Das sind alles einzelne Bewilligungsverfahren, die Zeit kosten und gegen die im Zweifel nacheinander Beschwerde erhoben werden kann. Mit dem Beschleunigungserlass sorgen wir nun dafür, dass all diese Einzelschritte in einem konzentrierten Plangenehmigungsverfahren zusammengefasst werden. Damit wird das Bewilligungsverfahren deutlich beschleunigt, ohne das Verbandsbeschwerderecht zu tangieren. Wichtig ist auch, dass die Gerichte ihre Verfahren für Energieprojekte von nationaler Bedeutung beschleunigen. Sie sollten ihr Urteil in 180 Tagen fällen, indem sie wichtige Projekte priorisieren. Das Nadelöhr sind oft die beschränkten Kapazitäten der Gerichte. Wir von Aqua Viva sowie alle anderen Umweltschutzorganisationen haben kein Interesse daran, Projekte zu verzögern. Unser Ziel ist es, Natur und Landschaft zu erhalten und dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Gesetze eingehalten werden.
Vor allem aufgrund der Beschwerde gegen das Trift-Projekt wird Aqua Viva vorgeworfen, wichtige Projekte im Sinne der Energiewende zu verzögern und zu verhindern.
Hierzu muss ich etwas weiter ausholen: Zunächst einmal ist das Verbandsbeschwerderecht kein Vetorecht. Die Umweltschutzorganisationen können nicht einfach sagen, dieses oder jenes Kraftwerk soll nicht gebaut werden. Wir können lediglich die Gerichte dazu auffordern, ein Projekt auf seine Rechtmässigkeit zu überprüfen. Doch am Ende entscheiden natürlich nicht wir darüber, ob ein Projekt gesetzeskonform ist oder nicht, sondern die Gerichte. Deshalb habe ich persönlich nicht nur als Präsidentin von Aqua Viva, sondern auch als Parlamentarierin grosse Mühe mit Einschränkungen beim Verbandsbeschwerderecht. Denn im Parlament machen wir die Gesetze. Wenn wir nun das Verbandsbeschwerderecht einschränken oder in gewissen Bereichen sogar abschaffen, dann ist das quasi ein öffentlicher Aufruf zur Nichteinhaltung des Gesetzes. Das kann doch nicht die Haltung des Parlaments, der gesetzgebenden Behörde sein!
Können Sie das etwas genauer umschreiben?
«Fischer schaffen Lebensraum» kann als ökologischer Gewässerunterhalt betrachtet werden. Damit bieten wir eine sinnvolle Ergänzung zu den grossen Revitalisierungsprojekten und bieten unseren Mitgliedern ein attraktives Betätigungsfeld, um selbst etwas zur Verbesserung der Situation beizutragen. Das ist ein tolles Beispiel für Eigenverantwortung. Wir stellen nicht nur Forderungen, sondern setzen selbst auch konkret um, was im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten liegt. Wir haben zu «Fischer schaffen Lebensraum» ein detailliertes Handbuch verfasst, in dem wir die Vorgehensweise und einzelne Massnahmen vorstellen. Darüber hinaus initiieren wir auch den Austausch mit den zuständigen Behörden, so dass gegenseitiges Vertrauen geschaffen und die bewilligten Massnahmen pragmatisch und einfach umgesetzt werden können.
Fischer schaffen Lebensraum gibt es mittlerweile seit einigen Jahren und es wurden viele Kilometer Fliessgewässer aufgewertet. Erste Wirkungskontrollen zeugen vom Erfolg der Massnahmen. In einem aktuellen grösseren Projekt sollen mit der vom BAFU eingeführten standardisierten Methode zur Evaluation von Revitalisierungen auch mehrere «Fischer schaffen Lebensraum»-Projekte untersucht werden. Ausserdem sind wir dabei, das Programm auszubauen. Denn es müssen natürlich nicht nur die Fischer:innen sein, die solche Massnahmen umsetzen.
Gibt es weitere Beispiele wie der SFV und die Fischer:innen vor Ort zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen?
Ein Beispiel sind die Äschen im Hochrhein. In den Hitzesommern 2003, 2018 und 2022 haben Fischer:innen zusammen mit den Behörden in einer Art Feuerwehreinsatz Kaltwasserrefugien geschaffen, Einstände geschützt, die Badenden sensibilisiert, tote Fische aus dem Rhein geborgen und vieles mehr.
Ein weiteres Beispiel ist unser Engagement rund um die Rettung des Roi du Doubs. Leider ist der Roi du Doubs akut vom Aussterben bedroht. Wir gehen von nur noch wenigen verbleibenden Individuen aus. Zwar gibt es seit vielen Jahren einen nationalen Aktionsplan für den Doubs – eine Bestandserholung oder auch nur ein Stopp des Rückgangs konnte bislang aber leider nicht erreicht werden. In einer grossen Koalition mit den zuständigen Behörden, der Wissenschaft, mehreren Zoos sowie Akteuren aus Frankreich versuchen wir daher, ein Arterhaltungsprogramm als ergänzende Massnahme herbeizuführen. Neben unserem breiten, strukturellen Ansatz mit «Fischer schaffen Lebensraum» engagieren wir uns also auch in akuten Notsituationen für den Erhalt unserer Fischvielfalt.
Aufzucht und Besatz wie beim Roi du Doubs oder auch der oft besetzten Forelle sind nicht immer förderlich in Sachen Fischvielfalt. Können Sie uns erklären warum?
Jedes Gewässer ist geprägt durch eigene chemische Signaturen, Abflusssituationen, Temperaturregime, Parasitenvorkommen, Artenzusammensetzungen und vielen weiteren Faktoren. Die Fische haben sich an diese Umweltbedingungen angepasst. Die Forelle ist hierfür ein sehr gutes Beispiel. Sie zeichnet sich aus durch extrem viele feinräumig lokal angepasste und genetisch differenzierte Populationen. Diese Diversität wurde lange nicht erkannt beziehungsweise nicht ausreichend berücksichtigt.
Bei Besatzaktionen war man beispielsweise der Meinung, dass es sich bei den Forellen im gesamten schweizerischen Einzugsgebiet des Rheins um ein und dieselbe Art handelt und es keine Rolle spielt, wenn man Tiere sogar aus anderen Rhein-Ländern in der Schweiz einsetzt. Durch ein solches Vorgehen hat man viel zerstört. Denn die eingesetzten, genetisch fremden Fische haben vielerorts die lokalen Populationen verdrängt oder genetisch vermischt – oft nur subtil aber über viele Generationen hinweg. Dies führte zu einem Verlust vieler lokaler Anpassungen. Populationen können sich deshalb bei schnellen Umweltveränderungen nachgewiesenermassen schlechter an die neuen Lebensbedingungen anpassen. Mitunter ebenfalls ein oft vernachlässigter Grund, weshalb die Forellenbestände insgesamt zurückgegangen sind. Es ist also entsprechende Vorsicht beim Besatz angebracht. Die Grundlagen für nachhaltige, ökologische Besatzmassnahmen sind heute bestens bekannt.
Und was sagen Sie konkret zum Trift-Projekt?
Das Trift-Projekt ist eines von 15 Wasserkraftwerken, die vom Runden Tisch beschlossen und mit dem Stromgesetz auch im Energiegesetz festgeschrieben wurden. Im Stromgesetz wurde ausserdem noch ein weiteres Projekt dazu genommen – das Wasserkraftwerk Chlus im Prättigau. Dieses Projekt wurde vom Runden Tisch nicht berücksichtigt, weil es keinen relevanten Beitrag zur Winterstromversorgung leistet. Die Wasserkraftlobby hat es jedoch verstanden, dieses Projekt trotzdem ins Gesetz zu schleusen.
Die 15 Projekte des Runden Tischs Wasserkraft waren bei den Verhandlungen noch nicht detailliert ausgearbeitet. Die Auswirkungen auf Natur und Landschaft konnten dementsprechend nicht beurteilt werden. Stand heute kann zum Beispiel niemand sagen, ob die Planung zum Gorner-Projekt die gesetzlichen Vorgaben erfüllt. Deshalb hat man im Abstimmungsbüchlein zum Stromgesetz auch festgehalten, dass das Verbandsbeschwerderecht auch für die erwähnten 16 Wasserkraftprojekte nicht eingeschränkt wird. Wer «Ja» gesagt hat zum Stromgesetz, hat auch «Ja» gesagt zur Beschwerdemöglichkeit der Verbände und befürwortet damit, dass einzelne Projekte auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüft werden.
So ist es auch beim Trift-Projekt. Nachdem das Bundesgericht das Projekt 2020 gestoppt hatte, musste der Kanton Bern dieses neu bewerten. Wir von Aqua Viva haben Beschwerde gegen die Konzessionserteilung eingereicht, weil wir den Eindruck haben, dass die gesetzlichen Anforderungen noch nicht erfüllt sind und die vom Bundesgericht angemahnten Mängel nicht behoben wurden. Insbesondere sind wir der Meinung, dass die Interessenabwägung zwischen Schutz und Nutzen nicht gemäss den gesetzlichen Vorgaben vorgenommen wurde.
Was wären aus Ihrer Sicht die Konsequenzen, wenn es nun zu weiteren Einschränkungen beim Verbandsbeschwerderecht kommt?
Das Verbandsbeschwerderecht ist ein wichtiges Instrument zum Schutz der Natur und Landschaft. Die Beschneidung dieses Rechts wird seit Jahren immer wieder diskutiert, insbesondere wenn gewinnträchtige Projekte verzögert oder gar verhindert werden. Im Umweltbereich erleben wir aber tagtäglich, wie wichtig es ist, auf die korrekte Umsetzung der Gesetze zu achten. Meist sind es nur die Umweltschutzorganisationen, die genau hinsehen. Ohne das Verbandsbeschwerderecht könnten sie die Anwaltschaft der Natur nicht mehr gut übernehmen. Denn erinnern wir uns daran: Ohne das Verbandsbeschwerderecht wären Naturjuwelen wie die Greina-Hochebene, das Laggintal oder das Val Madris heute zerstört. Das Beschwerderecht hat zudem eine präventive Wirkung. Projekte werden grundsätzlich umweltfreundlicher gestaltet, wenn Umweltschutzorganisationen Beschwerde erheben können. Auch deshalb hat sich das Stimmvolk 2008 mit einer Zweidrittelmehrheit für den Erhalt des Verbandsbeschwerderechts ausgesprochen.
Die Herbstsession war Ihre letzte Session. Wie geht es nun für Sie weiter?
Ich werde noch bis Ende November als Nationalrätin im Amt sein. Ab dem 2. Dezember darf ich den Stab an Linda De Ventura übergeben: Eine junge, sehr engagierte Schaffhauser Sozialpolitikerin. Als Präsidentin von Aqua Viva werde ich mich aber weiterhin für den Gewässerschutz engagieren. Diese Aufgabe bereitet mir viel Freude und ich freue mich, dass ich dafür in Zukunft mehr Zeit habe.
Frau Munz, vielen Dank für das Gespräch.
Martina Munz