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Wie wichtig sind Naturerfahrungen für Kinder und Jugendliche?
Wie wichtig sind Naturerfahrungen für Kinder und Jugendliche?
Die Kinder aus Bullerbü lebten in einem kleinen Paradies: lange Sommernächte zwischen Heuballen, Versteckspielen im Kuhstall und Baden im See. Unsere heutige Realität sieht für viele anders aus als in der schwedischen Landidylle Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber wie wichtig sind Naturerfahrungen und das freie Spiel draussen in der Natur für Kinder wirklich? Wir haben dazu ein Gespräch mit Professor Ulrich Gebhard von der Universität Hamburg geführt.
Das Gespräch führte Günther Frauenlob

«Die positiven Wirkungen von Naturerfahrungen entfalten sich vor allem dann, wenn damit das Gefühl von Freiheit und Abenteuer verbunden ist.»
Prof. Ulrich Gebhard, Universität Bielefeld
Warum ist der intensive Kontakt mit der Natur für die Entwicklung von Kindern wichtig?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil die Persönlichkeit des Menschen primär als das Ergebnis der Beziehung zu sich selbst und der Beziehung zu anderen Menschen verstanden wird. Die nichtmenschliche Umwelt, also auch Pflanzen, Tiere, Natur und Landschaft spielt in einem solchen, gleichsam zweidimensionalen Persönlichkeitsmodell nur eine untergeordnete Rolle. Die Erfahrungen, die Kinder in den ersten Lebensjahren mit vertrauten Bezugspersonen machen, bestimmen wesentlich die Persönlichkeit und auch, mit welcher Tönung und Qualität die Welt wahrgenommen wird. Dafür gibt es den Begriff «Urvertrauen». Die Frage ist nun, ob auch die Erfahrungen, die wir in und mit der Natur machen, etwas mit dem besagten «Urvertrauen» zu tun haben könnten.
Sollte das so sein, hätte das dann auch eine sehr praktische Dimension: Die Frage nach «Naturbedürfnissen» ist z. B. bedeutsam für den Städtebau, die Landschaftsplanung, die Architektur von öffentlichen wie privaten Gebäuden. Es ist die Frage, wie sich äussere Natur in der inneren Natur des Menschen repräsentiert und was das für jeweilige Folgen hat. In zahlreichen Untersuchungen zur Kleinkindentwicklung wird hervorgehoben, wie wichtig eine vielfältige Reizumgebung ist. Neben dem Einfluss auf die Gehirnentwicklung trägt eine reizvielfältige Umwelt dazu bei, psychische Entwicklungsschritte anzuregen und zu fördern. Eine naturnahe Umgebung, in der sowohl relative Kontinuität als auch ständiger Wandel besteht, ist ein sehr gutes Beispiel für eine derartige Reizumwelt. Die Natur verändert sich ständig und bietet zugleich Kontinuität. Sie ist immer wieder neu – man denke nur an den Wechsel der Jahreszeiten – und doch bietet sie die Erfahrung von Verlässlichkeit und Sicherheit: Der Baum im Garten überdauert die Zeitläufe der Kindheit und steht so für Kontinuität. Das Herumstreunen in Wiesen und Wäldern, in sonst ungenutzten Freiräumen kann Sehnsüchte nach «Wildnis» und Abenteuer befriedigen.
In meinem Umfeld stelle ich fest, dass Kinder heute immer weniger Zeit in der Natur verbringen. Können Sie diese Beobachtungen bestätigen?
Das kann man so eindeutig nicht sagen, wenn auch natürlich die Medien, vor allem Computer, Smartphone und Fernsehen, eine starke Faszinationskraft auf Kinder und Jugendliche ausüben. Und auch der oft verplante Tagesablauf vieler Kinder passt bisweilen nicht zu dem freien Spiel in der Natur. Doch das ist hier nicht das Thema.
Trotzdem ist das Spielen in der Natur nach wie vor durchaus beliebt.
In einer Befragung von über 2000 Kindern wird deutlich, welche Wirkungen die Kinder selbst ihren Naturerfahrungen zuschreiben. Zunächst ist bemerkenswert, dass für die meisten Kinder Natur und Umwelt der wichtigste positive Aspekt in ihrer Wohnumgebung ist. Bei den selbst empfundenen Wirkungen von Naturerfahrungen stehen Spass, Wohlfühlen und Entspannung deutlich an erster Stelle. Fast Dreiviertel der Kinder meinen, in der Natur so sein zu können, wie sie sind. Selten haben die Kinder Angst in der Natur.
Gibt es gesicherte Erkenntnisse über die gesundheitlichen Auswirkungen von Naturerfahrungen?
Die Befunde zur belebenden und gesundheitsfördernden Wirkung von Natur sind vielfältig. Naturräume mit Wiesen, Feldern, Gewässern, Bäumen und Wäldern haben eine belebende Wirkung bzw. bewirken eine Erholung von geistiger Müdigkeit und Stress. Diese Wirkungen werden häufig mit evolutionären Annahmen in Verbindung gebracht, wonach eine Bevorzugung von naturnahen Umwelten mit biologisch fundierten Dispositionen zusammenhänge. Nach psychologischen Theorien wirken sich Naturerfahrungen deshalb günstig auf die Gesundheit aus, weil sie einen Abstand zum Alltagsleben bzw. Alltagstrott ermöglichen und Aufmerksamkeit provozieren, die nicht anstrengt. Es gibt einige Hinweise, dass sich Naturerfahrungen positiv auf die Konzentrationsfähigkeit auswirken. Zudem zeigt sich, dass das Kinderspiel in sogenannten Naturerfahrungsräumen komplexer, kreativer und selbstbestimmter ist.
In meiner Erinnerung hat das Spielen in der «Wildnis» am Rande unseres Wohnviertels die Kinder Teil einer verschworenen Gemeinschaft werden lassen – gibt es Erkenntnisse über den Einfluss von Naturerfahrungen auf das Sozialverhalten von Kindern?
Wildnis ist ein gutes Stichwort. Natürlich gibt es in Mitteleuropa keine echte Wildnis mehr. Trotzdem ist es eindeutig so, dass die positiven Wirkungen von Naturerfahrungen sich vor allem dann entfalten, wenn damit das Gefühl von Freiheit und Abenteuer verbunden ist. Ein wesentlicher Wert von Naturerfahrungen besteht in der Freiheit, die sie vermitteln. Am meisten werden nämlich von Kindern die Freiräume geschätzt, die von den Erwachsenen gewissermassen «vergessen» wurden. «Wir sind so gern in der Natur, weil diese keine Meinung über uns hat», sagt Friedrich Nietzsche. So müsste es – übrigens nicht nur für Kinder – mehr «freien» ungeplanten Raum auch in den Städten geben. In Naturerfahrungsräumen spielen Kinder länger, lieber und weniger allein. Insofern ist der soziale Aspekt, den Sie ansprechen, auch sehr wichtig. Denn zum Natur- Erlebnis gehört auch das Gemeinschafts-Erlebnis durch die Beziehung zu anderen Menschen.
Gibt es Naturerfahrungen, die für Kinder wertvoller sind als andere? Welche Qualitäten muss Natur haben, um auf Kinder anregend zu wirken?
Beliebt sind Bäume und Wasser. Auch Tiere können in diesem Kontext erwähnt werden. Das Wichtigste – ich wiederhole mich – ist jedoch die Freizügigkeit. Auch mit vielleicht auf den ersten Blick nicht so attraktiven Brachflächen können Kinder etwas anfangen. Dabei reichen Kindern auch ungenutzte städtische Flächen wie Baustellen, Hinterhöfe, Bahndämme und Ruinen. Wesentlich für sie ist nur, dass sie niemand kontrolliert und dass keiner ihre Erfahrungen zu lenken versucht. Dann spielen Kinder selbstbestimmter, komplexer und kreativer als auf Spielplätzen. Der Naturraum wird als bedeutsam erlebt, weil man dort eigene Bedürfnisse erfüllen und Fantasien und Träume schweifen lassen kann. Auf diese Weise bekommt er eine persönliche Bedeutung.
Beeinflussen Naturerfahrungen auch die Einstellung zur Natur, das Umweltbewusstsein?
Häufig wird mit dem Plädoyer für Naturerfahrungen auch die Hoffnung verbunden, dass Naturerfahrungen und Umweltbewusstsein positiv zusammenhängen. Viele empirische Studien zeigen nun in der Tat eine Verbindung von positiven Naturerlebnissen und umweltpfleglichen Einstellungen. In der Tendenz zeigt sich, dass Naturerfahrungen in der Kindheit einer der wichtigsten Anregungsfaktoren für späteres Engagement für Umwelt- und Naturschutz sind. Der zentrale Gedanke dabei ist, dass unser Gefühl für die Natur eher von positiven Erlebnissen und von Intuitionen als von rationalen Argumenten geprägt wird. So ist es folgerichtig, in der Naturschutzdebatte die erlebnisbezogene und intuitive Ebene wieder salonfähig zu machen.
Autor

Ulrich Gebhard
arbeitet seit 2021 als Seniorprofessor an der Fakultät für Erziehungswissenschaften, davor war er seit 1995 an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Bedeutung von Natur für die psychische Entwicklung sowie Natur und Gesundheit.
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