Bild: © Gianni Baumann
Artikel aus aqua viva 4/2020
Besucherlenkung schützt Natur und schafft Erlebnisse
Besucherlenkung schützt Natur und schafft Erlebnisse
Man schützt nur, was man liebt und liebt nur, was man kennt
Bekanntlich üben Wasserflächen und insbesondere fliessende Gewässer grosse Anziehungskraft auf uns Menschen aus. Bei naturnahen und renaturierten Gebieten trifft dies oft noch stärker zu. Hier wird «wilde Natur» erlebbar, Tiere und Pflanzen lassen sich beobachten und die Gestaltungskraft des Wassers wird uns vor Augen geführt. Gerne blenden wir dabei aus, dass wir mit unserer Erlebnislust genau das beeinträchtigen, was wir suchen: die Natur selbst. Die Besucherlenkung nimmt sich diesem Dilemma an und sucht nach Wegen, Naturschutz und Naturerlebnis auf engem Raum zu vereinen.
Von Nik Reusser
Während der Corona-Pandemie haben viele Menschen die Natur neu für sich entdeckt – sei es beim Spazieren, Wandern oder Velofahren, später auch beim Langlaufen, auf Skitouren oder mit den Schneeschuhen.
Diese Nähe zur Natur ist grundsätzlich erfreulich. Gleichzeitig geraten sensible Lebensräume dadurch zunehmend unter Druck. Besonders in beliebten Naherholungsgebieten kann die hohe Frequentierung Tiere, Pflanzen und deren Lebensräume stark beeinträchtigen – sowohl im Sommer als auch im Winterhalbjahr.
Der Druck auf die Naturperlen nimmt zu
Sobald an einem Bach oder an einem Fluss ein Abschnitt revitalisiert wird, lassen die Erholungssuchenden nicht lange auf sich warten. Einfache Zugänge zum Ufer, verzweigte, mäandrierende Gerinne, Kiesbänke und Schwemmholz – alles Faktoren, welche auf Besuchende höchst attraktiv wirken, weil sie die Natur mit allen Sinnen wahrnehmbar machen. Der Wunsch nach echtem Erleben als Ausgleich zu einem zunehmend durch virtuelle Begegnungen geprägten Alltag ist legitim. Doch im Grossen wie im Kleinen, die Begleiterscheinungen bleiben die gleichen. Der Run auf die Natur geht nicht spurlos an ihr vorbei. Ganze Gebiete werden grossflächig beansprucht, seltene Lebensräume verletzt, sensible Pflanzen beeinträchtigt, empfindliche Tierarten verscheucht. Hinzu kommen oft kaum bewältigbare Verkehrsaufkommen, liegen gebliebener Abfall und Betriebsamkeit – nicht selten rund um die Uhr. Die Besucherströme in weitbekannten Hotspots gilt es daher genauso in geordnete Bahnen zu lenken, wie die Naturbegeisterten im kleinen Naturschutzgebiet.
Denn so attraktiv ein Bergsee im Berner Oberland oder eine revitalisierte Auenlandschaft an einem Flussabschnitt im Mittelland für uns Menschen sind, genauso anziehend sind diese Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Hier finden Tagfalter ihre spezifische Wirtspflanze, sandnistende Wildbienen das geeignete Substrat, Reptilien ein reichhaltiges Nahrungsnetz oder ein geschütztes Winterquartier … Kurzum: Ein vielfältiges, intaktes Ökosystem, welches für verschiedene Lebewesen nützlich oder gar unerlässlich ist. Der Konflikt mit den Erholungssuchenden ist also vorprogrammiert, liegt der Reiz der Nutzung für uns Menschen doch gerade in der Wildheit dieser natürlichen Gebiete.
Besucherlenkung kann Dilemma lösen
Die Besucherlenkung bringt Lösungen für dieses Dilemma. Sie kommt dem Bedürfnis der Erholungssuchenden nach und bietet zugleich Schutz für Fauna und Flora, indem sie den Zugang zum Naturerlebnis regelt und die nötigen besucherfreien Zonen schafft. Spezifische Bestimmungen, angepasst auf die Situation vor Ort, dienen der Rücksichtnahme auf saisonale oder temporäre Begebenheiten. Besucherlenkende Massnahmen bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Nutzen und Schützen, zwischen Verbieten und Gewähren und letztendlich zwischen Mensch und Natur. Die Besucherlenkung erfordert deshalb eine sorgfältige Abwägung zwischen menschlichen Bedürfnissen und den für den Naturschutz notwendigen Beschränkungen. Fühlen sich Besuchende ausgesperrt oder aus ihnen nicht ersichtlichen Gründen eingeschränkt, fehlt die Akzeptanz und das gewünschte Verhalten tritt nicht ein. Darunter leidet die Natur, die eigentlich geschützt werden soll.
Einfacher als die nachträgliche Beschränkung ist es daher, wenn die Besucherlenkung bereits in einer frühen Planungsphase einer Revitalisierung thematisiert und die Lenkungsmassnahmen zusammen mit den baulichen Massnahmen realisiert werden. Was die Besuchenden bisher nicht hatten, vermissen sie in der Regel auch nicht.
Beispiel Schutz des Flussuferläufers durch temporäres Betretungsverbot
Der Flussuferläufer ist ein stark bedrohter, typischer Auenbewohner. Als Kiesbrüter ist er auf grossflächige, möglichst störungsarme Kiesbänke angewiesen. Wird er während der Brutzeit von Spaziergängern oder laufenden Hunden gestört, führt dies oft zur Aufgabe des Geleges.
Sobald der Nachweis eines Flussuferläuferpaares während der Brutzeit erbracht ist, kommt eine spezifische Besucherlenkungsmassnahme zum Einsatz: um den Bruterfolg zu erhöhen, kann lokal ein Betretungsverbot angeordnet werden. Die Besucherinformation wird direkt vor Ort angebracht. Die zeitlich relativ eng begrenzte Einschränkung wird allgemein gut akzeptiert und hält Besuchende tatsächlich vom Betreten der potenziellen Brutstätte des Flussuferläufers ab.
Auf dieser Kiesinsel im Berner Oberland findet der Flussuferläufer das geeignete Bodensubstrat zum Brüten und Ruhe vor Spaziergängerinnen und Spaziergängern und laufenden Hunden. Foto: © Andreas Jaun, Infonatura
Schwierige Umsetzung
Doch planerische und früh umgesetzte Massnahmen allein führen nicht in jedem Fall zum Ziel, wie die Entwicklung im Selhofen, dem Gebiet der Aare-Gürbemündung (Kanton Bern) eindrücklich zeigt.
Hier wurden in den Jahren 2012–2015 Hochwasserschutz- und Revitalisierungsmassnahmen umgesetzt. Die Realisierung ermöglichte eine starke Lebensraumaufwertung und erhöhte die Vielfalt an Habitaten zugunsten einer höheren Biodiversität. Als Naherholungsgebiet vor den Toren Berns erfährt das Gebiet allerdings einen starken Nutzungsdruck. Dies wurde bereits bei der Planung berücksichtigt und erste besucherlenkende Massnahmen waren dann auch Bestandteil des Bauprojekts. So wurde der bestehende Weg auf diesem Flussabschnitt vom Aareufer zurückversetzt, wodurch ein Bereich zwischen Weg und Ufer geschaffen werden konnte, in welchem sich die Natur ungestört entwickeln soll. Hier gilt seither ein generelles Betretverbot. Auch von der Aareseite her dürfen Schlauchboote nicht am Ufer anlegen. Entsprechende Signalisation vor Ort informiert Besuchende über die geltenden Bestimmungen.
Schon kurze Zeit nach der Fertigstellung wurde jedoch klar, dass die Besucherinformation zu wenig Wirkung zeigte. Ungeachtet der geltenden Schutzbestimmungen übten die flachen, kiesigen Ufer und die ruhigen, unberührten und naturnahen Nischen im Naturschutzgebiet eine enorme Anziehungskraft auf die Erholungssuchenden aus. Das Betret- und Anlegeverbot konnte nur mit besonderen Bemühungen, das heisst durch die Einführung eines Rangerdienstes, durchgesetzt werden. Die vor Ort eingesetzten Rangerinnen und Ranger führen seither regelmässig Aufsichtseinsätze durch, sprechen Besuchende auf ihr Fehlverhalten an, klären auf und schaffen so Verständnis für die Lenkungsmassnahmen. Die Sensibilisierung für die angeordneten Massnahmen ist ein wichtiger Pfeiler der Besucherlenkung. Sind Besuchende über die vorkommenden Naturwerte informiert, werden die einschränkenden Massnahmen besser angenommen, Gebote und Verbote besser befolgt. Je offensichtlicher die Notwendigkeit eines angebrachten Schutzes ist, desto grösser ist das Verständnis dafür. Hier greift die Besucherlenkung auf den Grundsatz im Sinne von Konrad Lorenz' Zitat zurück: «Man liebt nur was man kennt, und man schützt nur was man liebt.»
In der Tat konnten im Selhofen das Fehlverhalten der Besuchenden durch die Rangertätigkeit reduziert und die Schutzmassnahmen zu Gunsten der Natur verbessert werden.
Lenkungsmassnahmen sichern Naturräume
Um zu verhindern, dass im Auengebiet alle Flächen begangen und nach Feuerholz abgesucht werden, können ausgerüstete Feuerstellen installiert werden, welche immer über ausreichend Holz zum Feuern verfügen. Dies macht Sinn, denn das liegende Totholz ist für die Vegetationsentwicklung wichtig und stellt für zahlreiche Kleintiere eine wertvolle Struktur dar. Voraussetzung für das Funktionieren dieser Lenkungsmassnahme ist die Klärung der Zuständigkeit und die Bereitstellung der nötigen Mittel für den Unterhalt.
Der Aarelauf zwischen Thun und Bern bietet Besuchenden unzählige Verweilmöglichkeiten, wo man auch Bräteln darf. In unserem Beispiel im Gebiet Selhofen wurde deshalb auf eine ausgestattete Brätlistelle verzichtet, das freie Begehen der Auenflächen bleibt den Besuchenden verwehrt.
Allerdings greifen die Ranger-Kontroll- Massnahmen nicht in allen Belangen: Während die Missachtungen des Anlegeverbots von der Aare und des Betretverbots von der Fussgängerseite her abnehmen, bleiben Fehlverhalten auf dem Fussgängerweg nach wie vor bestehen, insbesondere die Missachtung des Velo- Fahrverbots sowie der Leinenpflicht für Hunde. Während das Leinengebot für Hunde der Natur zugutekommt, bezweckt die Entflechtung und räumliche Trennung zwischen Spazierenden und Velofahrenden die Verminderung des Konfliktpotenzials zwischen diesen beiden Nutzergruppen. Hier kommt nebst den Bemühungen der Rangerinnen und Ranger nach wie vor die Apellstrategie zum Zug – auf eine Veloschranke hat man bis jetzt verzichtet.
Die Lenkungs-, Informations- und Besucherführungsmassnahmen im Selhofen sind heute vielfältig und orientieren sich an den vorhandenen Naturwerten. Sie reichen vom Anbringen von Abfall- und Hundekoteimern an den Hauptzugängen über einfache Holzzäune, Informationsstelen, Parkplätzen, Betretungs-, bzw. Anlegeverboten mit entsprechender Beschilderung bis hin zum besagtem Rangerdienst (vgl. Kasten 2). Trotz der einschränkenden Massnahmen können Besuchende die Natur erleben: Der erhöhte Fussgängerweg auf dem Schutzdamm wirkt wie eine Warte und verschafft Einblicke in die umgebende, unberührte Landschaft.
Typische Besucherlenkungsmassnahmen
Besucherlenkende Massnahmen hängen stark von den vorherrschenden Naturwerten, saisonalen (Schutz-) Aspekten oder den Möglichkeiten seitens der Behörden ab. Einige typische Lenkungsmassnahmen sind (nicht abschliessend):
- Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung direkt vor Ort (z.B. Aufklärungsperson, Ranger)
- Besucherinformationstafeln an neuralgischen und publikumsintensiven Standorten mit Infos zum Gebiet und zum gebotenen Verhalten
- Entflechtung von verschiedenen Nutzergruppen z. B. mittels Rad- oder Reitwege, notfalls mit physischen Hindernissen
- sanfte Leitstrukturen mit Sträuchern oder anderen Bepflanzungen zum Vermeiden von Trampelpfaden oder Durchgängen
- fixe oder mobile Infrastrukturen zum Vorbeugen von Missständen wie Abfall- und Hundekoteimer, Toilettenanlagen
- Ausgerüstete Brätlistellen mit Holzspendern
Allen Massnahmen ist gemein, dass sie an die Vernunft appellieren und auf die freiwillige Einhaltung seitens der Besuchenden abzielen. Greifen die Massnahmen nicht, muss im Regelkreis der Erfolgskontrolle korrigierend eingegriffen werden, bis sich die erwünschte Wirkung einstellt.
Naturerlebnisse steigern die Akzeptanz
Das Beispiel Selhofen zeigt, dass zur Akzeptanz von einschränkenden Massnahmen neben der Aufklärung und Sensibilisierung auch die Ermöglichung von Naturerlebnissen nötig ist. Nur wenn den Bedürfnissen der Besuchenden nachgekommen wird und das Ausleben einer bestimmten Freizeitaktivität an geeigneten Orten bewusst zugelassen wird, kann in so stark genutzten Gebieten wie dem Selhofen der strikte Schutz andernorts einfacher aufrechterhalten werden.
Glücklicherweise ist die Situation zur Besucherlenkung nicht immer so komplex wie im Selhofen. Manchmal reichen simple Massnahmen völlig aus, etwa eine kurze Infotafel vor Ort oder eine Übersicht mit Besucherinformationen an den Eingangspforten eines Gebietes. Viele Informationen lassen sich mittlerweile auch online abrufen und wirken einem «Schilderwald» mit Informationstafeln entgegen.
Unbestritten ist, dass der Aufenthalt in der Natur für unsere Gesellschaft wichtig ist, das Wohlbefinden fördert und sich positiv auf die Gesundheit auswirkt. Dies wurde schon vor langer Zeit erkannt: Bereits in Zeiten der Industrialisierung wurden bewusst Pärke in Städten angelegt. Diese grünen Oasen im urbanen Raum behalten bis heute ihre Bedeutung. Doch hat sich die Nutzung naturnaher Räume dank der vermehrten Freizeit, der zunehmenden Mobilität und der unglaublichen Kreativität des Menschen, was die Erfindung neuer Geräte zur Freizeitbeschäftigung betrifft, stark ausgeweitet. Dadurch entstehen neue Konfliktzonen, die in den Fokus der Besucherlenkung gerückt werden (müssen).
Sei es nun im städtischen Park oder in der teilweise gezähmten Natur entlang eines Flusses oder in der wilden Natur eines unberührten Bergtales – ein rücksichtsvoller Umgang mit der Natur und ein abgestimmtes Verhalten auf die vorhandenen Naturwerte sind in jedem Fall unabdingbar. So lässt sich Natur auch weiterhin nachhaltig und schonend erleben.
Dieser Artikel aus der Zeitschrift aqua viva 4/2020 wurde leicht überarbeitet.
Autor
Nik Reusser
ist diplomierter Primarlehrer und hat an der Universität Bern Biologie mit Fachrichtung Zoologie studiert. Von 2012 bis 2023 war er als Biologe im Fachbereich Landschaft beim Büro IMPULS AG Wald Landschaft Naturgefahren in Thun tätig. Nik Reusser war auch viele Jahre als Freelancer für Aqua Viva an unseren Gewässern unterwegs.
Kontakt
E-Mail: nik.reusser@kandart.ch
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