Bild: © Christian Göldi
Artikel aus aqua viva 3/2023
Paradigmenwechsel
Christian Göldi ist ein Pionier des naturnahen Wasserbaus in der Schweiz. Sein Einsatz für die Wiederbelebung der Fliessgewässer gilt bis heute als beispielhaft. Mit Aqua Viva blickt er zurück und erzählt von einer Erfolgsgeschichte, deren Anfänge kritisiert wurden und deren Ende noch längst nicht geschrieben ist.
Von Tobias Herbst
Christian Göldi ist heute 80 Jahre alt und seit 2005 in Pension. Zuvor hat er 30 Jahre beim Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (AWEL) im Kanton Zürich gearbeitet. Und Göldi hat seine Zeit genutzt. Er hat den naturnahen Wasserbau im Kanton Zürich etabliert, war verantwortlich für unzählige Revitalisierungsprojekte und hat dazu beigetragen, dass die Gewässerrevitalisierung zum wichtigen Bestandteil des Gewässerschutzgesetzes wurde. Vielen gilt er als «Vater» des naturnahen Wasserbaus in der Schweiz. Und auch über die Grenzen hinweg hat Göldi Spuren hinterlassen – davon zeugen internationale Auszeichnungen der britischen Ford Conservation Foundation 1987 oder der Japan River Association von 2005 und dem Bindingpreis 1992. Vorherzusehen war diese Karriere als Gewässerschützer mit internationalem Renommee jedoch nicht.
Ökologie war lange Zeit «kein Thema»
Göldi ist in der Region Werdenberg in Sevelen (SG) aufgewachsen. Seine Eltern lehrten ihn die Liebe zur Natur und sein Interesse für Fliessgewässer war schnell geweckt. Bereits in der Sekundarschule wollte er Wasserbauingenieur werden. Allerdings träumte Göldi nicht von revitalisierten Flussläufen. Was ihn faszinierte, war der technische Aspekt des Wasserbaus: Dämme bauen, Wasserkraft nutzen und Flüsse beherrschbar machen. Nach seinem Studium an der ETH Zürich, das er mit einem Diplom in Wasserbau abschloss, arbeitete er auf einer Dammbaustelle in der Türkei und an einem Dammbau-Projekt in Südafrika. Doch Göldi zog es zurück in die Schweiz und er bewarb sich beim Amt für Gewässerschutz und Wasserbau des Kantons Zürich (heute AWEL). Als er 1975 seine Stelle antritt, werden Fliessgewässer im Sinne des Hochwasserschutzes noch in monotone Trapezprofile gezwängt. Von naturnahem Wasserbau oder gar Revitalisierungen spricht damals niemand. «Ich wurde angestellt in der Abteilung Gewässerkorrektionen und dieses Wort sagt schon alles. Es war ganz klar, dass man Bäche kanalisiert und ich war ein klassischer Bauingenieur», erinnert sich Göldi.
Erste Gehversuche im naturnahen Wasserbau
Bereits damals mussten jedoch alle Wasserbauprojekte im Kanton von den Fischereizuständigen und der Fachstelle Naturschutz beurteilt werden. Weil deren Ideen bei den Wasserbauern (es gab damals noch keine Wasserbauingenieurinnen) lange Zeit nicht ernst genommen wurden, haben diese bereits gejubelt, wenn in die mit Steinen dicht gepflasterte Bachsohle kleine Unterstände für Bachforellen eingebaut wurden, erzählt Göldi. Ihm habe das nicht gereicht. Um zu verstehen, was Bachforellen wirklich brauchen, habe er das Gespräch mit dem Fischereiadjunkten gesucht. «Du musst mir sagen, was ihr braucht. Ich als Bauingenieur weiss das nicht.» Göldi lernte vieles über die Lebensweise und die Fortpflanzung von Bachforellen und verstand, dass hierfür eine kiesreiche Gewässersohle und mehr Dynamik im Gewässer entscheidend sind. Er sah es als «technisches Problem», das er als Wasserbauingenieur zu lösen hatte.
Eine erste Gelegenheit dazu bot sich ihm 1979 am Mülibach in Saland. Statt das Gewässer hart zu verbauen, setzte Göldi auf eine durchgehend kiesige Bachsohle. Er plante ein flaches Ufer und sicherte es ausschliesslich mit Pflanzen wie Weiden und Erlen. Um Bodenerosion zu verhindern, verbaute er lediglich einige Querschwellen aus Naturstein. «Mein damaliger Chef Christoph Maag wusste, dass wir etwas im Schilde führen und wollte es mit mir anschauen. Ich bin ihm bei der Besichtigung hinterhergelaufen und war unsicher, wie er reagieren würde. Irgendwann hat er mich dann angeschaut und gesagt: Genau so muss man es machen.»
Dies war die Geburtsstunde des naturnahen Wasserbaus im Kanton Zürich. Denn Göldi erfuhr nicht nur die Unterstützung von Amtschef Maag. Es zeigte sich auch, dass seine Methoden funktionieren. Forellen hatten den neuen Bachabschnitt sofort in Beschlag genommen, im Uferbereich wurden Libellen und im sich schnell entwickelnden Gehölz verschiedene Vogelarten gesichtet. Bis heute gibt es keine Hochwasserschäden.
Generationenwechsel
In der Folge übernahm Göldi die Abteilung Gewässerunterhalt und erprobte und verfeinerte seine Methoden an weiteren Gewässern. Auf blosse Zustimmung stiess er damit allerdings nicht. Gerade die älteren Kollegen im Kanton Zürich, bei anderen Kantonen aber auch beim Bund sahen seine Ideen kritisch. Den grössten Widerstand erfuhr er von seinem ehemaligen Vorgesetzten aus der Abteilung Gewässerkorrektionen, der sich immer wieder auch gegenüber Amtschef Maag negativ äusserte: «Was der Göldi macht, ist fahrlässig!» Göldi konnte mit der Kritik umgehen. Er nahm sie zum Anlass, seine Ideen zu hinterfragen und zu verbessern. Als sein ehemaliger Vorgesetzter in Pension ging, stand Göldi bei ihm im Büro: «Weisst Du, es war schon nicht immer einfach, dass Du unsere Arbeit so kritisch gesehen hast. Aber Du hast mich gezwungen, die Sachen so zu machen, dass es verhebt und für das bin ich Dir dankbar.»
Neben all der Kritik erfuhr Göldi auch viel Zustimmung. Immer mehr Kollegen (und später auch Kolleginnen) interessierten sich für seine Methoden und Göldi gab bereitwillig Auskunft. Die ökologische und landschaftliche Aufwertung der Gewässer wurde für ihn zur wichtigsten Herausforderung. Er suchte sich Unterstützung bei gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland und legte dabei grossen Wert auf die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Fachbereichen weit über den reinen Wasserbau hinaus. Er hielt Vorträge und bot Exkursionen an. An der ETH gab er seine Ideen in einem Lehrauftrag weiter. In den 1980er Jahren hat Göldi so viele junge Kolleginnen und Kollegen überzeugt und zu einem Generations- und Paradigmenwechsel im Schweizer Wasserbau beigetragen. Sogar japanische Fachleute wurden auf die unkonventionellen Arbeiten im Kanton Zürich aufmerksam. Daraus entwickelte sich ein fruchtbarer Fachaustausch mit Vortragsreisen nach Japan und Exkursionen von Japanern nach Zürich.
Von Einzelprojekten zum Programm
1983 riskierte Göldi viel. Der Näfbach bei Neftenbach war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Erst in den 1970er Jahren war der Bach nach den damaligen Standards ausgebaut und kanalisiert worden. Doch musste dies für immer so bleiben? Göldi sagt: «Irgendwann hat es mich gejuckt.» Also hat er kurzer Hand einen Baggerfahrer organisiert und zu ihm gesagt: «Komm wir machen das jetzt kaputt.» Zusammen mit einem seiner Mitarbeiter haben sie ohne Auftrag, ohne Plan und ohne Bewilligung die Verbauungen aufgebrochen und den gesamten Bachlauf neu gestaltet. Amtschef Maag war skeptisch, ob der zuständige Regierungsrat diese Vorgehensweise billigen würde. Er bat den damaligen Baudirektor Albert Sigrist zu einer Begehung. Wie bei seinem ersten Projekt am Mülibach lief Göldi hinterher und dachte sich: «Jetzt gibt’s Ärger». Doch Sigrist war begeistert: «Super, weiter so Herr Göldi!»
Göldi verstand es als Auftrag und hatte nun auch seinen direkten Vorgesetzten Christoph Maag restlos überzeugt. Nach weiteren Projekten wie beispielsweise an der Reppisch gab Maag 1986 den Auftrag, ein Wiederbelebungsprogramm für den ganzen Kanton zu erarbeiten. Hierzu wurden rund ein Dutzend Teams aus Ingenieur- und Planungsbüros gebildet, die jeweils für ein bestimmtes Gebiet prüften, wo Revitalisierungen möglich und nötig waren. Gemäss seinen Erfahrungen drängte Göldi auf die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen: Jedes Team bestand folglich aus einem Landschaftsarchitekten, einem Bauingenieur und einem Biologen. Hunderte Gewässerabschnitte für mögliche Revitalisierungsprojekte wurden so identifiziert und im «Wiederbelebungsprogramm für die Fliessgewässer» zusammengefasst. Dieses wurde dann 1989 mit grosser Zustimmung vom Kantonsrat verabschiedet und mit einem Budget von 20 Millionen Franken ausgestattet.
Die Erfolge
Bis zum Ende des Programms im Jahr 2012 wurden im Kanton Zürich rund 80 Kilometer Fliessgewässer revitalisiert. Einerseits durch 46 kantonale Wiederbelebungsprojekte und Projekte beim Bau von Nationalstrassen. Andererseits durch 295 kommunale Projekte mit einer Länge von rund 58 Kilometern, davon gut 30 Kilometer Bachausdolungen und 28 Kilometer Revitalisierungen, finanziert und begleitet durch den Kanton.
Das Wiederbelebungsprogramm beeinflusste in der Folge auch die Gesetzgebung auf Bundesebene, diente dieser als Vorbild. Mit der Inkraftsetzung des Bundesgesetzes über den Schutz der Gewässer am 1. November 1992 und dem Bundesgesetz über den Wasserbau am 1. Januar 1993 erhielt der naturnahe Wasserbau eine schweizweite gesetzliche Grundlage. Beide Gesetze verlangten, dass bei Eingriffen in ein Gewässer dessen natürlicher Verlauf beibehalten oder wiederhergestellt werden muss. 2012 als Göldi bereits sieben Jahre pensioniert ist, wurden schliesslich auch qualitative Ziele für die Gewässerrevitalisierung auf Bundesebene gesetzlich festgeschrieben: Bis 2090 sollen schweizweit 4000 Kilometer Fliessgewässerstrecke revitalisiert werden und allein im Zeitraum 2012 bis 2015 hat der Bund hierfür 142 Millionen Franken zur Verfügung gestellt.
Göldi ist stolz auf das Erreichte: «Das Besondere ist, dass der Kanton Zürich als erster Kanton der Schweiz ein solches Programm auflegte. Ohne dass ein gesetzlicher Auftrag bestand. Auch keine Umweltschutzorganisation ist auf die Idee gekommen, ein solches Programm zu fordern. Wir, die ‹träge› Verwaltung, waren damals die Pioniere und das war ein starkes Signal für die ganze Schweiz».
Gemeinsam für lebendige Gewässer
Auch im Ruhestand ist Göldi als Experte gefragt und konnte in beratender Funktion eines seiner grössten Projekte zu Ende führen. Die Thurauen bei Flaach und Marthalen gelten heute als eines der Vorzeigeprojekte in Sachen Revitalisierung in der Schweiz und als das grösste Auengebiet im Mittelland. Göldi hat es federführend mit geplant. Was ihm an seiner Arbeit am meisten Spass gemacht habe? «Alles habe ich am liebsten gemacht. Es war sehr vielfältig und schön.» Eines hebt er aber doch hervor. Für Göldi war es zentral, die Menschen miteinzubeziehen, mit ihnen zu argumentieren, von ihnen zu lernen und sie ernst zu nehmen: Gemeindebehörden, Bundesbehörden, Mitglieder des Kantonsrates, Vorgesetzte und Mitarbeitende im Amt und der Verwaltung, Betroffene im Projektgebiet, Fachleute aus den Ingenieurbüros, der Biologie und Landschaftsplanung, Bauern und Bäuerinnen, Kolleginnen und Kollegen aus anderen Kantonen und Ländern und viele weitere. So habe er die Grundlage für seine erfolgreiche Arbeit gelegt und auch Freundschaften geschlossen.
Um den naturnahen Wasserbau und die Revitalisierung verbauter Gewässer in der Schweiz zu etablieren, hat es Charaktere wie Christian Göldi gebraucht. Persönlichkeiten, die Menschen und Ideen zusammenbringen, etwas riskieren, Mut haben und die sich von Kritik nicht entmutigen lassen, sondern sie als Ansporn verstehen. Göldi ist überzeugt, dass sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen lässt, wir nicht mehr zum klassischen Wasserbau zurückkehren. Die nächste Generation müsse nun dafür sorgen, dass das gewonnene Wissen und die gesetzlichen Grundlagen genutzt und in der Breite umgesetzt werden. Göldi hat viel erreicht, seine Erfolgsgeschichte muss nun von anderen weitergeschrieben werden.