Skip to main content

Bild: © Alexandre Patchine - stock.adobe.com

Verabschiedet sich das Parlament vom Naturschutz?

Wo heute noch rund ein Drittel aller bedrohten Tier- und Pflanzenarten der Schweiz letzte Zufluchtsorte findet, sollen zukünftig Wasserkraftwerke und Solaranlagen stehen. So zumindest sieht es der Ständerat im sogenannten Mantelerlass vor. Biotope von nationaler Bedeutung sollen nun also auch noch die Energieprobleme des Landes lösen. Dabei bräuchten sie selbst dringend Hilfe: Aufgrund fehlender Pflege, eines ungenügenden Schutzstatus und ökologischer Beeinträchtigungen befinden sie sich in schlechtem Zustand. Es ist zu hoffen, dass der Nationalrat diesen Irrsinn stoppen wird. 


«Kaum richtig umgesetzt, will der Ständerat den Schutz unserer wertvollsten Biotope bereits wieder dem Energiehunger opfern. Damit laufen wir Gefahr, die letzten Rückzugsorte der ohnehin stark beeinträchtigten Artenvielfalt endgültig zu verlieren .»

Salome Steiner, Geschäftsleiterin Aqua Viva

Am 29. September 2022 hat der Ständerat mit dem sogenannten Mantelerlass eine Gesetzesvorlage verabschiedet, welche den Bau von Energieproduktionsanlegen in Biotopen von nationaler Bedeutung ermöglichen soll. Davon betroffen wären beispielsweise die die Greina-Hochebene oder das Val Roseg. Einzigartige Naturjuwelen mit unschätzbarem Wert für die Natur aber auch uns Menschen. Aqua Viva verurteilt diesen Beschluss des Ständerats auf schärfste: Statt die Zerstörung der letzten Naturjuwelen voranzutreiben, sollte der Ständerat endlich dafür sorgen, das massive Umsetzungsdefizit auf Seiten der Kantone in Bezug auf die gesetzlichen Vorgaben zu den Biotopinventaren von nationaler Bedeutung zu beheben.

Die Biotope von nationaler Bedeutung machen nur knapp 2,3 Prozent der Schweizer Landesfläche aus. Es sind die letzten Rückzugsorte unserer Artenvielfalt. Ausgerechnet hier will der Ständerat nun den Bau von Energieanlagen ermöglichen.

In der Schweiz gibt es heute 7100 Biotope von nationaler Bedeutung. Jedes davon ist in einem der fünf Bundesinventare (Hochmoore, Flachmoore, Auengebiete, Amphibienlaichgebiete, Trockenwiesen und -weiden) gelistet. Zusammen ergeben sie eine Fläche von 101 816 Hektar oder knapp 2,3 Prozent der Schweizer Landesfläche. Es sind die einzigen Flächen der Schweiz, die einem absoluten Schutz unterliegen und somit von der Interessensabwägung ausgenommen sind. Und dies aus gutem Grund, denn hier leben 1060 der rund 3800 bedrohten Tier- und Pflanzenarten der Schweiz.

Die in den Inventaren definierten Biotope erfüllen jedoch nicht per se die dort definierten gesetzlichen Vorgaben. Laut einem aktuellen Bericht des BAFU ist dies bislang in drei Viertel der Biotope nur ungenügend oder gar nicht der Fall. Erst 45 Prozent der Flächen sind vollständig geschützt, nur 40 Prozent werden auf ganzer Fläche gepflegt, es hapert bei der Umsetzung von Pufferzonen und mindestens 50 Prozent der Flächen sind ökologisch in einem dringend sanierungsbedürftigen Zustand. Das BAFU kommt dementsprechenden zu einem deutlichen Fazit: «2021 und damit 30 Jahre nach der Inkraftsetzung der ersten Inventare ist die Umsetzung der Biotope von nationaler Bedeutung stark in Verzug und es zeigen sich erhebliche Defizite.»

Wie so häufig haben Bund und Kantone ihre Hausaufgaben in Bezug auf den Naturschutz und den Erhalt der Biodiversität nicht gemacht. Die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben wurde über viele Jahre hinaus verschleppt. Nun greift der Ständerat auch noch nach den letzten Schutzgebieten der Schweiz. Angesichts der globalen Biodiversitätskrise, des dramatischen Artensterbens auch in der Schweiz sowie bestehender Alternativen zur Energieerzeugung auf bestehender Infrastruktur muss man dem Ständerat nun unterstellen, dass er den weiteren Verlust zahlreicher Arten sowie der Lebensgrundlage zukünftiger Generationen billigend und bewusst in Kauf nimmt.

Alle Biotope von nationaler Bedeutung mit ausführlicher Objektbeschreibung sind auf der Website des BAFUs zu finden:
→ Biotope von nationaler Bedeutung

MEHR GEWÄSSERNEWS

Gletschervorfelder: Schutzbedarf und Entwicklung

55 Gletschervorfelder und 15 alpine Schwemmebenen sind im Bundesinventar der alpinen Auen verzeichnet. Durch die Gletscherschmelze entstehen weitere grosse Areal – doch wie steht es um deren Schutz? Der Biodiversitätsverlust erfordert eine Neubewertung der Nutzungsinteressen.

Naturgefahren im Zusammenhang mit Gletscherschmelze und Klimawandel

Der Klimawandel sorgt für grosse Verluste von Gletscherfläche und -volumen. Daraus ergeben sich weitreichende Folgen für die Landschaften des Hochgebirges und mögliche Naturgefahren. Christian Huggel von der Universität Zürich gibt einen Überblick zu den möglichen Gefahren und wie wir damit umgehen können.

Neuland mit vielseitigem Potenzial

Der Gletscherrückzug schafft junge, ungestörte Lebensräume mit grossem Potenzial. Ihre Vielfalt und Dynamik sind besonders wertvoll, doch einige sind durch den Ausbau der Wasserkraft bedroht. Daher ist es wichtig, Schutzinstrumente für Gletschervorfelder und alpine Schwemmebenen zu kennen.

Das Gauligletschervorfeld: Zehn Quadratkilometer Neuland

Seit Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 hat sich der Gauligletscher um vier Kilometer zurückgezogen und eine beeindruckende Landschaft mit kargen Felsformationen, Seen und einer Vielfalt an Lebensräumen hinterlassen. Dieses einzigartige Gebiet verdient langfristigen Schutz.

Wiege neuer Lebensräume

Gletschervorfelder sind Orte, wo das Leben wieder neu Fuss fass. Sie sind stille Wunder der Natur – selten, unberührt und voller Leben. Im Interview erklärt Dominik Siegrist, Vorstandsmitglied von Aqua Viva, warum ihm die Schweizer Gletschervorfelder am Herzen liegen.

Affront gegen Volk und Natur

Der Ständerat hat den «Beschleunigungserlass» mit für den Naturschutz inakzeptablen Einschnitten beim Verbandsbeschwerderecht und den gesetzlichen Ersatzmassnahmen verknüpft. Damit kassiert er wesentliche Voraussetzungen für die Zustimmung zum Stromgesetz und missachtet den Volkswillen.