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Bild: © Gianni Baumann

Artikel aus aqua viva 4/2022

Die Ökologische Infrastruktur: Jahrhundertprojekt für Mensch und Natur

Die Ökologische Infrastruktur ist ein Jahrhundertprojekt des Naturschutzes. Das vom Bundesrat beschlossene Lebensnetz für die Schweizer Biodiversität muss bis 2040 aufgebaut werden. Auch die hellblaue Lebensraumebene der Fliessgewässer und Auen soll ein wichtiger Bestandteil sein. Doch für eine wirksame Ökologische Infrastruktur gibt es noch viel zu tun.

Von Franziska Wloka

Die insbesondere durch Lebensraumverlust bedrohten Flussregenpfeifer und Flussuferläufer stehen sinnbildlich für den Zustand der Biodiversität in der Schweiz. Den kleinen Limikolen fehlt es an naturnahen und dynamischen Gewässern mit ungestörten Kiesbänken als Bruthabitaten. Geeignete Lebensräume wurden vor allem im Laufe des letzten Jahrhunderts weitgehend zerstört oder stark beeinträchtigt. Die letzten verbliebenen naturnahen Flussabschnitte sind zudem auch für Menschen sehr attraktiv, wodurch es immer wieder zu Störungen der Brut kommt oder die Kiesbrüter sich gar nicht erst ansiedeln. Beide Arten sind in der Schweiz stark gefährdet, weshalb sich BirdLife Schweiz engagiert für ihren Schutz einsetzt (Schuck et al. 2020).

Ein Flussuferläufer steht im flachen Wasser, wo wenige Pflanzen wachsen.
Der Flussuferläufer benötigt naturnahe und störungsfreie Gewässer, die in der Schweiz kaum mehr zu finden sind. © Marcin Perkowski - stock.adobe.com

Zum Erhalt der an Fliessgewässer und Auen gebundenen Biodiversität und ihrer Ökosystemleistungen wäre eine Verdoppelung des aktuellen Anteils natürlicher und naturnaher Gewässerabschnitte nötig, so das Ergebnis einer Studie des Forums Biodiversität SCNAT (Guntern et al. 2013). Es fehlt schätzungsweise an 220 Quadratkilometern natürlichem und naturnahem Gewässerraum. Bei den Tiefland-Auen wäre sogar mehr als eine Verdreifachung der Fläche notwendig, so die Expert:innen: Um die 760 Quadratkilometer sind hier zusätzlich zur Revitalisierung und Sicherung der noch bestehenden Auenreste nötig.

Die aquatischen Lebensräume gehören mit zu den am stärksten gefährdeten Habitaten in der Schweiz, doch auch um die Biodiversität ganz allgemein ist es schlecht bestellt. Von 167 beurteilten Lebensraumtypen sind 48 Prozent bedroht und 13 Prozent potenziell gefährdet (Delarze et al. 2016). Bei den untersuchten Arten gelten 35 Prozent als vom Aussterben bedroht und weitere zwölf Prozent als potenziell gefährdet (Stand 2022, BAFU-Publikation in Vorbereitung; siehe auch Cordillot & Klaus 2011).

Lebensnetz für die Biodiversität

Wie in den Bereichen Verkehr und Energie braucht die Schweiz auch eine Infrastruktur für die Biodiversität: Die Ökologische Infrastruktur. Der Bundesrat beschloss 2012 in seiner Strategie Biodiversität Schweiz, dass «zur Sicherung des Raumes für die langfristige Erhaltung der Biodiversität» bis 2020 eine solche Ökologische Infrastruktur aufgebaut werden solle. Hierfür müsse zum einen das Schweizer Schutzgebietssystem ergänzt und aufgewertet werden, zum anderen diese Kerngebiete auch in der gesamten Landschaft vernetzt werden. Die Umsetzung wurde vom Bundesrat nachträglich um 20 Jahre auf 2040 verschoben.

Doch auch mehr als zehn Jahre nach dem «Startschuss» für das so dringend benötigte Lebensnetz für die Biodiversität hat sich auf der Fläche kaum etwas für unsere heimischen Arten und Lebensräume getan. Die kantonalen Fachplanungen zur Ökologischen Infrastruktur laufen noch bis 2024. Der Bund muss im Anschluss aus all den kantonalen Planungen eine landesweite Infrastruktur zusammenführen. Wertvolle Zeit vergeht, in welcher der Trend für unsere Biodiversität weiter abwärts zeigt.

BirdLife-Kampagne

Aus diesem Grund startete BirdLife Schweiz 2020 eine fünfjährige Kampagne zur Unterstützung der Ökologischen Infrastruktur. Gemeinsam mit allen Mitgliedsorganisationen auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene setzt sich der Verband für die Vision eines guten und wirksamen Lebensnetzes ein, dessen Umsetzung nicht länger warten kann. Die Sensibilisierung und Aufklärung von sowohl Zielgruppen als auch der allgemeinen Bevölkerung ist von grösster Bedeutung, um die Unterstützung für dieses bedeutende Generationenprojekt zu fördern.

Für eine wirksame Ökologische Infrastruktur braucht es vor allem mehr grosse und verbindlich gesicherte Kerngebiete von hoher ökologischer Qualität. Mit Unterschieden je nach Lebensraum und Region sind insgesamt rund ein Drittel der gesamten Landesfläche notwendig, um die Biodiversität langfristig zu sichern, so die wissenschaftliche Erkenntnis. Die Biodiversität sichern heisst dabei nicht unbedingt, dass keine Nutzung der Flächen mehr möglich ist. Ganz im Gegenteil benötigen viele wertvolle Lebensräume sogar eine regelmässige, aber angepasste und extensivere Pflege, wie zum Beispiel Pfeifengraswiesen, Trockenweiden oder Hochstammobstgärten.

Die hellblaue Lebensraum-Ebene

Der raumplanerischen Verankerung des Lebensnetzes kommt eine entscheidende Rolle zu: Lebensräume und ihre Arten sind an bestimmte Orte in der Landschaft gebunden. Gebiete zum Schutz der Biodiversität müssen also nach deren Vorkommen und Bedürfnissen ausgewiesen werden. Bei der Planung und Umsetzung der Ökologischen Infrastruktur sind deshalb die verschiedenen Lebensraumebenen zu berücksichtigen. Im Fall der Fliessgewässer und Auen spricht BirdLife Schweiz von der hellblauen Lebensraumebene (BirdLife Schweiz 2020). Das Fliessgewässernetz aus Quellen, Bächen, Flüssen und Auen beschränkt sich dabei nicht auf die Wasserläufe und ihre Ufer, sondern schliesst explizit die regelmässig überschwemmten Auenlebensräume mit Auenwäldern, Feuchtwiesen und Altläufen ein. Gerade diese Quervernetzung innerhalb der Auengebiete fehlt heutzutage vielerorts in der Schweiz.

Am Beispiel des Flussregenpfeifers und des Flussuferläufers zeigt sich, dass noch Hoffnung für unsere Biodiversität besteht. Auch wenn beide Arten stark bedroht sind, konnten sie ihren Bestand dank gezielter Artenförderungsprojekte und Flussrevitalisierungen auf niedrigem Niveau halten. Für langfristig überlebensfähige Populationen benötigen die kleinen Vögel, die stellvertretend für viele andere Arten stehen, jedoch mehr gesicherten Lebensraum. Die Ökologische Infrastruktur bietet auch für die hellblaue Lebensraumebene grosse Chancen: Und zwar nicht nur für die Natur, sondern auch für uns Menschen, die wir von essenziellen Ökosystemleistungen wie sauberem Wasser und Hochwasserschutz profitieren.

Autorin

Portraitbild von Pascal Vonlanthen sitzend an einem Fluss

Franziska Wloka
Dr., Agrarbiologin und seit 2020 bei BirdLife Schweiz Projektleiterin Ökologische Infrastruktur und damit insbesondere für die BirdLife-Kampagne «Ökologische Infrastruktur – Lebensnetz für die Schweiz» zuständig.

Kontakt
Franziska Wloka
BirdLife Schweiz
Wiedingstrasse 78, 8036 Zürich
+41 44 457 70 27

www.birdlife.ch

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