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Mehr Raum für lebendige Gewässer: der Vollzug ist überfällig
Mehr Raum für lebendige Gewässer: der Vollzug ist überfällig
Ausreichend gross bemessene Gewässerräume dienen Mensch und Natur. Sie sorgen für besseren Hochwasserschutz, sauberes Wasser und bieten vielfältige Lebensräume. Dennoch gibt es in der Schweiz ein enormes Defizit bei der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben: Gewässerräume werden vielerorts zu klein oder gar nicht ausgeschieden – zu kurz gedacht, findet Aqua Viva.
Von Esther Leitgeb

«Werden Gewässerräume zu klein ausgeschieden, leidet die Biodiversität. Statt bei der Umsetzung zu tricksen, müssen die Kantone die gesetzlichen Vorgaben ungeschmälert umsetzen.»
Esther Leitgeb, Bereichsleiterin Gewässerschutz Aqua Viva
Gewässerräume umfassen das Fliessgewässer, das direkt anschliessende Land und die darauf wachsenden Pflanzen. Laut Gewässerschutzgesetz dürfen sie nicht bebaut und nicht intensiv landwirtschaftlich genutzt werden. Hier kann die Ufervegetation aufblühen und viele Tiere sind hier zu Hause. Durch die extensive Bewirtschaftung nimmt die Belastung durch Pestizide und Nährstoffe ab: Die Wasserqualität verbessert sich und Wasserlebewesen sind weniger Stress ausgesetzt. Gewässerräume sichern ausserdem Platz für die Revitalisierung beeinträchtigter Bäche und Flüsse.
Das revidierte Gewässerschutzgesetz von 2011 sieht vor, dass bis 2018 an allen Gewässern beidseitig Gewässerräume ausgeschieden werden. Die Umsetzung verläuft jedoch erschreckend langsam. 2023 haben nur 30 Prozent der Gemeinden die gesetzlichen Vorgaben erfüllt und bis wann es entlang aller Gewässer rechtskräftige Gewässerräume gibt, steht in den Sternen. Aqua Viva drängt deshalb auf eine schnellere und vor allem gesetzeskonforme Umsetzung. 2024 haben wir mit unseren Partner:innen genau hingesehen: Wir haben die kantonalen Umsetzungen unter die Lupe genommen und uns gegen die Verwässerung geltenden Rechts gewehrt.
Ohne Gewässerräume keine Vielfalt
Unsere Bäche und Seen machen zusammengerechnet «nur» vier Prozent der Landesfläche aus. Im Wasser und in den Übergangsbereichen zum Land finden jedoch über 80 Prozent der in der Schweiz vorkommenden Arten einen Lebensraum. Diese Artenhotspots stehen heute stark unter Druck. Durch die wachsende Bevölkerung, Urbanisierung und Intensivierung der Landwirtschaft ist ein Kampf um die endliche Ressource Boden entstanden. Dabei sind nicht nur die Fliessgewässer selbst, sondern auch deren unmittelbares Umfeld betroffen. 22 Prozent der Schweizer Fliessgewässer sind heute künstlich begradigt oder stark verbaut – im Mittelland sogar 50 Prozent. Strassen, Siedlungen und intensiv genutzte, landwirtschaftliche Flächen reichen vielerorts bis an die Gewässerränder. Die Konsequenzen sind mitunter dramatisch. Laut den Roten Listen des BAFU gelten heute rund 65 Prozent der ans Gewässer gebundenen Arten als ausgestorben, bedroht oder potentiell gefährdet (ohne Moose).
Gegen das Gesetz
Die korrekte Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zur Gewässerraumausscheidung ist damit von entscheidender Bedeutung. Der Bund hat hierzu Minimalvorgaben definiert. Zuständig für die Umsetzung sind aber die Kantone, welche die Aufgabe wiederum an die Gemeinden weitergeben. Hierzu dürfen die Kantone die Bundesvorgaben zwar durch eigene Gesetze und Vorgaben präzisieren, aber nicht schmälern. In der Realität läuft es jedoch häufig genau darauf hinaus.
Um einen Überblick über die kantonalen Gesetze und Vorgaben zu erhalten, haben die Umwelt- und Naturschutzverbände BirdLife, Pro Natura, WWF und Aqua Viva 2024 zwei Studien in Auftrag gegeben. Die erste Studie untersuchte die Abweichungen der kantonalen Gesetzgebung vom Bundesgesetz. Bei insgesamt zwölf Gesetzen aus zehn Kantonen wurden teilweise erhebliche Abweichungen vom Bundesgesetz festgestellt. Dies ist besorgniserregend. Die zweite Studie untersucht die Abweichungen von 25 kantonalen Vorgaben in Merkblättern und ähnlichen Arbeitshilfen. Als Basis diente die modulare Arbeitshilfe zur Festlegung des Gewässerraums der BPUK (2019). Auch hier haben wir 41 Abschwächungen nachgewiesen, fünf davon widersprechen klar den Bundesvorgaben.
Die Studien bestätigen, dass die Kantone ihren Handlungsspielraum bei der Gewässerraumausscheidung über das zulässige Mass hinaus ausreizen. Aqua Viva kann nur indirekt gegen kantonale Gesetze und Vorgaben vorgehen: Deshalb haben wir 2024 bei konkreten Gewässerraumausscheidungen in den Gemeinden mit Stellungnahmen, Informationsschreiben oder dem Ergreifen von Rechtsmitteln auf die Abweichungen zur Bundesvorgabe aufmerksam gemacht. Zwei Fälle werden im Folgenden beschrieben.
Kleine Gewässer – Gemeinde Freienbach (SZ)
Die Gemeinde Freienbach hat die Gewässerraumausscheidung in ihrer Gemeinde auf Grundlage eines Merkblatts des Kantons Schwyz erstellt. Der Kanton gibt darin vor, dass für Gewässer mit einer Sohlenbreite von unter 1,5 Metern kein Gewässerraum nötig ist. Im Gewässerschutzgesetz ist für solche Gewässer jedoch ein Gewässerraum von elf Metern vorgesehen. Zwar gibt der Bund auch vor, dass in bestimmten Fällen bei «sehr kleinen Gewässern» auf den Gewässerraum verzichtet werden darf. Dies muss aber im Einzelfall begründet und darf nicht pauschal festgelegt werden. Denn auch kleine Gewässer sind wichtig für den Erhalt der Artenvielfalt. Aqua Viva lässt daher gemeinsam mit WWF und Pro Natura die 1,5-Meter Regel im Merkblatt auf ihre Rechtmässigkeit prüfen.
Grosse Gewässer – Doppleschwand (LU)
Auch die Gemeinde Doppleschwand hat sich bei der Gewässerraumausscheidung auf den Kanton bezogen. Dieser ermöglicht den Gemeinden bei grossen Gewässern (ab 15 Metern Sohlenbreite), die Gewässerräume abgestuft auszuscheiden. Damit wäre eine intensive, landwirtschaftliche Bewirtschaftung am äusseren Streifen des Gewässerraums weiterhin möglich. Die Gemeinde Doppleschwand möchte diese Abstufung nun an der Kleinen Emme umsetzen. Dies ist nicht nur im Bundesgesetz so nicht vorgesehen, der betreffende Abschnitt der Kleinen Emme liegt zudem in einer Aue von nationaler Bedeutung sowie in einem für die Revitalisierung priorisierten Abschnitt. Aqua Viva bezweifelt die gesetzliche Konformität und lässt dies derzeit von einem Gericht prüfen.
Ihr Kontakt

Esther Leitgeb
Bereichsleiterin Gewässerschutz,
Geschäftsführerin ARGE Hochrhein
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